Junge in zerschlissener KleidungJunge in zerschlissener Kleidung

Interview: Straßenkinder in Indien

Rund zehn Millionen Kinder leben in Indien auf der Straße. Seit Jahrzehnten setzt sich Pater Koshy für diese Kinder und Jugendlichen ein.

"Wir möchten das Image von Straßenkindern ändern"

Pater Thomas Koshy SDB ist Direktor des „Don Bosco National Forum for the Young at Risk“ (YAR) in der indischen Metropole Neu-Delhi. Das Netzwerk koordiniert die Arbeit von 84 Don Bosco Einrichtungen in Indien. Zuvor war er 25 Jahre lang Leiter des Don Bosco Shelters für Straßenkinder in der südindischen Großstadt Vijayawada.

Warum ist das "Thema Straßenkinder" in Indien so relevant?

"Wir haben 2013 in 16 indischen Städten eine  Studie durchgeführt. Allein dort leben rund 116.000 Straßenkinder. In ganz Indien gibt es Millionen. Straßenkinder sind keine Randerscheinung! Die meisten kommen aus zerrütteten Familien. Oft sind sie zwischen 12 und 14 Jahre alt, wenn sie auf der Straße landen – manchmal auch jünger. Die Zahl der Mädchen ist in den letzten Jahren gestiegen. Früher kamen auf 100 Jungen ein bis zwei Mädchen, heute sind es vier bis fünf."

Wie flüchten sich Kinder und Jugendliche auf die Straße?

"Die meisten Kinder nehmen den Zug, um in die nächste Metropole zu gelangen. Oft liegt sie in einem anderen Bundesstaat. Sie verstecken sich während der Fahrt, um vom Schaffner nicht entdeckt zu werden. Unsere Sozialarbeiter und Streetworker sind rund um die Uhr an den Bahnhöfen. Es ist wichtig, direkt mit den Neuankömmlingen Kontakt aufzunehmen. Man erkennt sie sofort an ihrem Blick, der wirkt so verloren." 

Was bieten die Don Bosco Zentren? 

"Die Don Bosco Zentren sind offene Häuser. Jedes Kind wird hier aufgenommen. Die Straßenkinder können kommen, wann sie möchten. Die Mitarbeiter zeigen ihnen, dass wir Freunde sind und unsere Unterstützung nicht an Bedingungen knüpfen. Das ist gerade in der Anfangszeit ganz wichtig! Am Anfang sagen die meisten noch nicht mal ihren richtigen Namen. Sie erzählen auch nichts über ihre Eltern. Sie behaupten, dass ihre Eltern tot sind. Das sind alles Überlebensstrategien!" 

Wie können Straßenkinder an Bildung teilhaben?

"Im Don Bosco Zentrum leben Hunderte Straßenkinder. Viele von ihnen besuchen eine Brückenschule, die sie für die normale Schule fit macht. Die meisten Straßenkinder haben keine Schulbildung. Einige von ihnen besuchen später sogar das College und machen einen Universitätsabschluss. Viele mit Auszeichnung! Diese Erfolgsgeschichten veröffentlichen wir regelmäßig in den lokalen Zeitungen."

Warum sind die Medien so wichtig?

"In der Gesellschaft herrscht ein negatives Bild von Straßenkindern. Wir möchten dieses schlechte Image ändern. Deshalb bieten wir den Medien regelmäßig Erfolgsgeschichten an. Damit zeigen wir, dass man jedes Kind zum Leuchten bringen kann! Es muss nur die Chance dazu erhalten!"

Juni 2015 - Das Interview führte Kirsten Prestin

Noch Fragen?

Die meisten Straßenkinder kommen aus zerrütteten Familien. Sie fliehen vor Armut und Gewalt und leben deswegen auf der Straße. Viele Kinder laufen aber auch Gefahr, auf der Straße zu landen. Deswegen sind Straßenkinder für uns auch Kinder und Jugendliche, die öfter auf der Straße Zuflucht suchen oder auf der Straße arbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt ihrer Familien einen Beitrag zu leisten. Auch Kinder, denen es an den wichtigsten Dingen wie Liebe, Geborgenheit, Essen und Schulbildung mangelt, laufen Gefahr, ganz auf der Straße zu landen. Dazu gehören zum Beispiel Schulschwänzer, missbrauchte Kinder oder Kindersklaven.

Weil Vorbeugen besser als Heilen ist, tun wir alles, was verhindert, dass junge Menschen auf der Straße landen. Unsere Aktivitäten sollen soziale Ungleichheiten überwinden und jungen Menschen neue Möglichkeiten eröffnen. Wir tun dies, indem wir benachteiligte Kinder und Jugendliche in Risikosituationen begleiten und ihnen Zugang zu Bildung und Ausbildung bieten. Dabei möchten wir jungen Menschen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Werte.

Auf der ganzen Welt betreiben wir sogenannte Straßenkinder-Zentren, also Einrichtungen, in denen Straßenkinder Hilfe bekommen können. Der Besuch oder der Verbleib in den Straßenkinder-Zentren ist immer freiwillig. Für manche Kinder wird das Zentrum ein neues Zuhause, manche kommen nur ab und an zum Spielen vorbei oder um sich ein paar Stunden auszuruhen oder etwas zu essen.

Die Erstversorgung bspw. mit Kleidung und Essen ist notwendig, denn niederschwellige Angebote ermöglichen es uns, Kontakt zu Straßenkindern aufzubauen. Darüber hinaus ist uns langfristige, nachhaltige Hilfe ein besonderes Anliegen. Durch unsere Straßenkinder-Einrichtungen gelingt es,

  • Kontakt zu Straßenkindern aufzunehmen und sie erstzuversorgen,
  • Straßenkindern ein Zuhause zu bieten mit Menschen, die sich um sie kümmern,
  • Kindern und Jugendlichen durch Bildung und Qualifikation neues Selbstvertrauen zu schenken,
  • Kinder und Jugendliche zu befähigen, ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen und positiv in die Zukunft zu blicken.

Damit Straßenkinder von unseren Hilfsangeboten erfahren, suchen Streetworker die Straßenkinder direkt in ihrem Lebensumfeld auf, also auf der Straße. Sie sprechen sie an und versuchen, Kontakt aufzunehmen. So kann langsam und behutsam Vertrauen aufgebaut werden. Wenn das gelingt, bieten sie den Kindern Freizeit-, Lern- oder Gesundheitsangebote an. 

Für ein Leben jenseits der Straße